Was bedeutet cringe in der Jugendsprache?

Der aus der englischen Sprache stammende Begriff „cringe“ hat sich seit den 2010er-Jahren als fester Bestandteil der deutschen Jugendsprache etabliert. Das Verb „to cringe“ bedeutet im Englischen ursprünglich so viel wie „sich zusammenkrümmen“, „sich vor Scham winden“ oder „sich fremdschämen“. In der jugendlichen Alltagskommunikation beschreibt „cringe” peinliche, unangenehme oder übertriebene Situationen, in denen sich Zuschauer:innen oder Zuhörer:innen unwohl fühlen – oft nicht wegen ihres eigenen Verhaltens, sondern wegen dem anderer Personen. Besonders durch soziale Medien wie YouTube, TikTok und Memes sowie Streaming-Plattformen hat sich der Begriff in der deutschen Jugendkultur verbreitet und wird mittlerweile alltäglich gebraucht – oft auch in ironischer oder kritischer Weise.
FML ist ein Paradebeispiel für die Dynamik der digitalen Kommunikation: Ein ursprünglich vulgärer Ausdruck wurde in kurzer Zeit zu einem akzeptierten Bestandteil der Alltagssprache im Netz. Er steht symbolisch für eine neue Form, Gefühle öffentlich und gleichzeitig humorvoll auszudrücken. Die ironische Distanz, die FML schafft, ist ein Charakteristikum moderner Jugendkommunikation.

Herkunft und sprachliche Entwicklung

Ursprung des Begriffs „cringe“

Der Begriff „cringe“ stammt aus dem Altenglischen cringan, was „sich beugen“ oder „nachgeben“ bedeutete. In der modernen englischen Sprache bezeichnet „to cringe“ eine körperliche oder emotionale Reaktion auf etwas Peinliches, Unangenehmes oder Beschämendes. Diese emotionale Komponente – das reflexartige Zusammenzucken oder innerliche „Wegdrehen“ – wurde mit der Zeit zur Hauptbedeutung, die später auch in andere Sprachen übertragen wurde.

Einzug in die deutsche Sprache

Im Rahmen der fortschreitenden Globalisierung und insbesondere durch den Konsum englischsprachiger Inhalte auf Plattformen wie YouTube, Reddit, TikTok oder Netflix übernahmen Jugendliche in Deutschland zunächst ironisch, später dann als festen Bestandteil ihres Vokabulars, den Begriff. Die Bezeichnung wurde dabei nicht übersetzt, sondern direkt übernommen. Inzwischen ist „cringe” ein fester Bestandteil der Netzsprache und der deutschen Jugendsprache. Seit 2021 wird der Begriff auch in Wörterbüchern jugendsprachlicher Ausdrücke geführt, etwa in der Langenscheidt-Liste zum Jugendwort des Jahres.

Bedeutung und Anwendung im Alltag

Typische Verwendungssituationen

Der Begriff wird in zahlreichen Kontexten verwendet, unter anderem für:

  • Übertriebenes, unnatürliches oder gespieltes Verhalten
  • Peinliche Selbstdarstellungen in sozialen Medien
  • Fremdscham beim Betrachten von unangenehmen Szenen
  • Übermäßige Romantik, Pathos oder Kitsch
  • Veraltete oder „uncool“ wirkende Aussagen von Erwachsenen
  • Aufgesetzte Werbung oder Influencer-Inhalte

Beispiel:

„Hast du das neue Video von diesem TikToker gesehen? So cringe!“

Varianten des Begriffs

  • Cringe (Substantiv oder Adjektiv): „Das war cringe.“
  • Cringy (Adjektiv, selten im Deutschen, aus dem Englischen): „Der Typ ist voll cringy.“
  • Cringefest (ironische Steigerung): „Das war ein komplettes Cringefest.“
  • Secondhand embarrassment (synonymes englisches Konzept, in Deutschland weniger verbreitet)

Rezeption und Bedeutung in der Jugendkultur

Soziale Funktion

Die Bezeichnung „cringe“ erfüllt in der Jugendkommunikation mehrere soziale Funktionen:

  • Abgrenzung: Jugendliche nutzen „cringe“, um sich von anderen Gruppen, etwa älteren Generationen oder weniger medienaffinen Personen, abzugrenzen.
  • Werturteil: Das Wort dient als schnelles und eindeutiges Urteil über Inhalte, Verhaltensweisen oder Aussagen.
  • Ironisierung: Oft wird der Begriff bewusst übertrieben verwendet, um Humor zu erzeugen oder Missstände auf pointierte Weise zu kritisieren.

Ausdruck von Normen und Gruppenzugehörigkeit

Was als „cringe“ empfunden wird, hängt stark vom sozialen Umfeld ab. Der Begriff fungiert als sozialer Marker, durch den erkennbar wird, welche Verhaltensweisen innerhalb einer Peergroup akzeptiert oder abgelehnt werden. Wer etwas als „cringe“ bezeichnet, positioniert sich damit auch moralisch und kulturell innerhalb eines bestimmten ästhetischen und normativen Rahmens.

Mediale Präsenz und digitale Verbreitung

TikTok und YouTube

Auf Plattformen wie TikTok und YouTube finden sich tausende Videos, in denen Menschen auf „cringe content“ reagieren oder ihn gezielt darstellen. Reaktionsformate wie „Try Not to Cringe“ gehören zu den beliebtesten Kategorien.

Reddit und Meme-Kultur

Foren wie Reddit bieten eigene Unterkategorien wie r/cringe, in denen besonders unangenehme, absurde oder peinliche Inhalte gesammelt werden. Diese Communitys tragen maßgeblich zur Verbreitung des Begriffs bei und schärfen das kollektive Verständnis davon, was als „cringe“ gilt.

Werbung und Influencer-Marketing

Viele Jugendliche empfinden plumpe oder anbiedernde Werbekampagnen als „cringe“. Besonders dann, wenn Unternehmen versuchen, „jugendlich“ oder „trendy“ zu wirken, aber dabei veraltete Sprache oder überholte Trends verwenden, führt das zu Ablehnung und Spott.

Abgrenzung zu verwandten Begriffen

  • Peinlich: Klassisches deutsches Wort, das „cringe“ nahekommt, aber eher objektiv wirkt.
  • Fremdschämen: Direkte Übersetzung des Gefühls, das „cringe“ beschreibt, jedoch weniger in der digitalen Alltagssprache verankert.
  • Crackhead Behavior (engl.): Slang für irrationales, albernes oder „verrücktes“ Verhalten – gelegentlich überschneidend mit „cringe“.
  • Cringe Culture: Begriff für eine digitale Subkultur, die es sich zur Aufgabe macht, „peinliche“ Inhalte zu identifizieren, zu bewerten und öffentlich bloßzustellen.

Gesellschaftliche Debatte und Kritik

Mobbing und Ausgrenzung

Kritiker warnen davor, dass die inflationäre Nutzung des Begriffs „cringe“ zu Ausgrenzung und sozialem Druck führen kann. Was als unangenehm oder „unangebracht“ gilt, wird öffentlich bewertet und oft verspottet – insbesondere auf Plattformen mit großer Reichweite. Menschen, die sich nicht den Normen anpassen, können als „cringe“ abgestempelt und damit diskriminiert werden.

Authentizität vs. Performanz

Der Begriff steht auch im Spannungsfeld zwischen Authentizität und Selbstdarstellung. In sozialen Medien sind viele junge Menschen ständig bemüht, möglichst „nicht cringe“ zu wirken – also cool, kontrolliert, gelassen und „aesthetic“. Dies kann zu psychischem Stress führen, da jede Abweichung als peinlich wahrgenommen und öffentlich bewertet werden könnte.

Ironische Brechung

In Teilen der Netzgemeinde hat sich eine Meta-Ebene etabliert: Menschen bezeichnen sich selbst oder ihre Inhalte bewusst als „cringe“, um die Erwartungen der Zuschauer zu unterlaufen oder eine Anti-Haltung einzunehmen. So kann „cringe“ auch wieder positiv oder als Zeichen von Mut zur Andersartigkeit gedeutet werden.

Beispiele aus der Popkultur

  • Cringe Compilation-Videos auf YouTube mit Ausschnitten aus TV-Shows, öffentlichen Auftritten oder Social-Media-Clips
  • Reaktionen auf TV-Formate wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Bachelor“, in denen übertriebene Emotionen als „cringe“ wahrgenommen werden
  • Memes über „Boomer-Verhalten“, das von jüngeren Nutzern als unangenehm oder veraltet empfunden wird

Sprachwissenschaftliche Einordnung

Linguistisch gesehen ist „cringe“ ein Lehnwort, das sich durch Semantische Transferprozesse (Bedeutungsverschiebung vom Englischen ins Deutsche) etabliert hat. Es gehört zu einer wachsenden Gruppe von englischen Ausdrücken, die im Deutschen eine eigenständige Funktion und Färbung annehmen.

Lexikalische Anerkennung und Auszeichnungen

  • Der Begriff „cringe“ wurde in die Langenscheidt-Jugendwort-Auswahl 2021 aufgenommen.
  • Er belegte den zweiten Platz beim Jugendwort des Jahres 2021.
  • In vielen Online-Wörterbüchern wird „cringe“ mittlerweile als fester Bestandteil der modernen Umgangssprache geführt.

Didaktische Perspektive: Cringe im Unterricht

Immer mehr Lehrkräfte greifen das Wort „cringe“ im Deutsch- oder Ethikunterricht auf, um mit Schülern über Sprache, Werte, Gruppenverhalten und digitale Kommunikation zu sprechen. Dabei wird deutlich:

  • Wie Sprache soziale Dynamiken widerspiegelt
  • Wie Begriffsnutzung Emotionen beeinflusst
  • Wie Jugendliche Identität durch Sprache verhandeln
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